Der Krieger

Der Text "der Krieger" ist wie ein Rohling. Seine Sprache ist sehr dicht gehalten und muss vom Leser mit Ruhe und Bedacht entschlüsselt werden. Es liegt eine Vision hinter dahinter.

So wie der Text hier abgedruckt ist, habe ich ihn Anfang 2016 textgebunden aufgeführt. Bei einer anderen Gelegenheit habe ich die Geschichte, die für mich dahinter steht, etwas abgeändert frei erzählt. ("Der Spehr in ihrer Hand" war z.B. hier ein Stock.) Bei dieser frei erzählten Version entfaltete die Geschichte große Kraft und Wirkung.

 

Vermutlich wird sie immer wieder und anderen Formen und Gestalten von mir erzählt oder neu aufgeschrieben.

Der Krieger

mit Kraft in die Stille gesprochen

 

Der Krieger.

Er steht vor ihr.

Seine Augen sind unerbittlich auf sie gerichtet.

Ein Speer in seiner Hand. In seiner stolzen Haltung: Vorwurf.

Um ihn herum stehen in einem dichten Halbkreis weitere Krieger.

Sie wirken fahl und gefährlich.

 

Er führt sie an einen Abgrund. 

Sie muss ihm folgen.

Etwas lässt ihr keine Wahl.

Er zeigt hinunter.

Dort starben sie: Hunderte, Tausende seines Volkes.

Sein Blick verrät:

Es ist ihre Schuld.

 

Ihre blassen Schultern hängen nach unten.

Sie fühlt, wie sich eine Grenze eng um das Land zieht.

Um ein Land, das keine Grenzen kannte.

Die Krieger haben nur noch wenig Platz.

Sie spürt ihre Unruhe.

Ihr Gewissen gibt ihnen recht.

Was sollte sie tun?

 

Der Speer in ihrer Hand:

Er ist lang. Und spitz.

Sie könnte ihn gebrauchen.

Die Krieger murren drohend.

Sie nimmt den Speer - und stellt ihn vor sich.

Die Spitze zum Himmel gerichtet, das stumpfe Ende auf dem Boden.

Ihre Hände umschließen das Holz.

Sie gibt steten Druck in die Erde.

Da beginnt sie sich selbst zu spüren.

Ihre Trauer.

Ihre Wut.

 

Der Speer gibt ihr Richtung und Halt.

Sie beschließt: So würde sie bleiben,

was immer nun geschieht.

Sie schaut auf.

Ihre Augen treffen die Augen des Kriegers.

Doch ihr Blick bleibt frei.

 

Da erkennt sie in ihm: ihren Bruder.

 

In diesem Moment lösen sich die fahlen Krieger aus den Reihen.

Sie bewegen sich lautlos und stellen sich - einer nach dem anderen - hinter ihn.

Sie sieht: Es sind diejenigen, die vor ihm gelebt hatten - seine Urgroßväter und seine Ururgroßväter.

 

Hinter ihrem eigenen Rücken aber treten ebenso fahle Gestalten aus dem Nichts.

Sie stellen sich hinter sie.

Eine nach der anderen.

Es sind ihre Urgroßmütter und Ururgroßmütter.

Nun ist sie nicht mehr alleine.

 

Der Krieger aber blickt in ihre Augen - und erkennt seine Schwester.

 

Nun wissen sie.

Sie sind die Heutigen.

Sie sind diejenigen,

die entscheiden.

 

Sie lösen den Blick voneinander

und schauen in eine neue Richtung.

Dann gehen sie los.